Wann zerbricht ein Raumfahrzeug?

Diskrete-Elemente-Methoden helfen, komplexe Phänomene beim Hypervelocity-Impakt zu simulieren.

 

Der Aufprall eines Weltraummüllteilchens auf einen Satelliten in der Erdumlaufbahn führt in der Regel zum Auseinanderbrechen und Zersplitterung des Satelliten in Tausende neuer Weltraummüllteilchen. Dieses komplexe Phänomen wird mit einer einzigartigen Art der numerischen Simulation auf der Grundlage von Millionen kleiner Partikel untersucht.

Die zunehmende Zahl von Weltraumraketenstarts in den letzten Jahren verschärft die Risiken, die Weltraummüll für Satelliten in der Erdumlaufbahn darstellt. Ein Worst-Case-Szenario, das so genannte Kessler-Syndrom, sagt eine Kaskade von Kollisionen voraus, bei denen Weltraummüll mit Raumfahrzeugen zusammenstößt und katastrophale Zerstörungen verursacht. Die bei solchen Kollisionen entstehenden Fragmente fügen sich in den wachsenden Bestand an Weltraummüll ein, wobei jedes Ereignis die Wahrscheinlichkeit weiterer Kollisionen erhöht. Dieser sich ständig verschlimmernde Kreislauf endet damit, dass bestimmte Erdumlaufbahnen für Generationen unbrauchbar gemacht werden.

Ein wichtiger Weg, um zu verhindern, dass das Kessler-Syndrom Realität wird, besteht darin, die komplexen Phänomene besser zu verstehen und zu modellieren, die auftreten, wenn Raumfahrzeuge von Weltraummüll getroffen werden, der sich mit einer relativen Geschwindigkeit von bis zu 15 000 Metern pro Sekunde bewegt. Ein Hypyervelocityimpakt (HVI) ist extrem energetisch, und selbst millimeter- bis zentimetergroße Trümmerteile können einen kleinen Satelliten zerstören. Größere Einschläge verursachen nicht nur örtlich begrenzte Schäden, sondern können auch zum Zerbrechen von großen Satelliten führen.

Bei der Simulation von HVI und dem Auseinanderbrechen von Satelliten mit numerischen Methoden kann es eine Herausforderung sein, den Übergang eines Materials von einem festen zu einem fragmentierten Zustand mit traditionellen kontinuumsbasierten Simulationscodes wie der Finite-Elemente-Methode genau zu erfassen. Am Fraunhofer EMI haben wir einen neuartigen Simulationsansatz entwickelt, der auf der Interaktion vieler Millionen diskreter Teilchen basiert, um die Fragmentierung von Raumfahrzeugen zu simulieren. Unser Code MD-Cube eignet sich hervorragend für die Modellierung des Übergangs von einem festen zu einem fragmentierten Zustand, der bei einer HVI-Kollision auftritt.
 

© Fraunhofer EMI
Der Diskrete-Elemente-Simulationscode MD-Cube bildet die Fragmentierung nach einem Hochgeschwindigkeitseinschlag in Aluminium genau ab. Links: Experiment; rechts: Simulation.


Simulationen mit Millionen von Partikeln

MD-Cube wurde speziell entwickelt, um die Fragmentierung genau zu simulieren. Dies wird durch die Verwendung von Millionen kleiner Partikel erreicht, die durch Federn miteinander verbunden sind, um ein festes Material zu bilden. Die Kräfte in den Federn sind insgesamt so kalibriert, dass sie die makroskopische Eigenschaft eines bestimmten Materials annähernd wiedergeben. Wenn das Material belastet wird, versagen die Federn bei Erreichen einer vordefinierten Ausdehnung, was zu Rissen und schließlich zum Versagen des Materials führt. Auf diese Weise wird eine natürliche und realistische Fragmentierung erreicht.

Ein Schlüsselaspekt für den Erfolg von MD-Cube bei der Simulation von Fragmentierungsereignissen ist sein hoch entwickeltes Parallelisierungsschema. MD-Cube ist mit dem Message Passing Interface (MPI) parallelisiert, das es ermöglicht, die rechenintensiven Aufgaben der Berechnung von Partikelwechselwirkungen auf Hunderte von CPUs parallel zu verteilen. Die Verwendung von Millionen von Partikeln ermöglicht eine sehr feine »Auflösung« der simulierten Materialien und erlaubt es, das gesamte Spektrum der fragmentierten Trümmer, von großen Brocken bis hin zu staubähnlichen Partikeln, genau zu reproduzieren.

 

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Explosive Fragmentierung bei Hypervelocity-Impakt

Die explosive Fragmentierung, die in experimentellen HVI-Bildern zu sehen ist, wird in MD-Cube-Simulationen gut erfasst und reproduziert. Aluminium zum Beispiel versagt in unmittelbarer Nähe eines Hochgeschwindigkeitsaufpralls auf spröde Art und Weise, was zur Bildung von Tausenden von Fragmenten führt. Die MD-Cube-Simulationen geben dies gut wieder, insbesondere die breit gefächerte Verteilung der Fragmentgrößen.

Während die meisten Simulationsparameter für ein bestimmtes Material aus allgemeinen Materialeigenschaften wie dem Kompressionsmodul abgeleitet werden können, muss ein Simulationsparameter auf der Grundlage experimenteller HVI-Daten kalibriert werden. Wir führen diese Kalibrierung durch, indem wir die Form, Größe und Geschwindigkeit der Fragmentwolke zwischen experimentellen und simulierten Bildern direkt vergleichen. Außerdem kalibrieren wir das mechanische Verhalten bei niedrigen Geschwindigkeiten durch Vergleiche mit Ergebnissen von Impaktexperimenten.

Neben isotropem Aluminium ist MD-Cube derzeit auch in der Lage, anisotrope Materialien wie kohlenstofffaserverstärkte Polymere (CFK) zu simulieren. 

Hochgeschwindigkeitsimpakt auf eine CFK-Platte. Die Delaminierung des CFK und die langen Faserfragmente werden von der Simulation deutlich reproduziert.

CFK ist ein wichtiges Material in modernen Satelliten und ersetzt oft Aluminium in vielen Strukturkomponenten neuerer Raumfahrzeuge. CFK wird simuliert, indem den Materialeigenschaften der Kohlenstofffasern beziehungsweise der Epoxidmatrix unterschiedliche Federtypen in verschiedenen Richtungen zugeordnet werden. Mit diesem Ansatz wird nicht nur das orthotrope Verhalten erfasst, sondern auch das einzigartige Muster der Delaminierung und der Bildung langer, dünner Faserfragmente wird vollständig abgebildet. Die Fähigkeit, nicht nur die Anzahl und Größe der Fragmente, sondern auch ihre Form genau vorherzusagen, ist einer der vielen Vorteile der Simulation von Satelliteneinschlägen mit MD-Cube.

 

Der Weg zur Modellierung von Raumfahrzeugfragmentierung

Wir wenden MD-Cube auf eine Reihe von Einschlagsszenarien für Raumfahrzeuge an, um das Auseinanderbrechen von Raumfahrzeugen nach einem Einschlag von Weltraummüll besser zu verstehen und zu modellieren. Zunächst untersuchen wir das Auseinanderbrechen von vereinfachten CubeSats, indem wir die Verteilung der Fragmente nach verschiedenen Aufprallszenarien untersuchen, zum Beispiel wenn eine kleine Kugel auf einen CubeSat trifft oder zwei CubeSats zusammenstoßen. 

Die resultierenden Fragmentverteilungen stimmen gut mit bestehenden empirischen Modellen wie dem NASA Satellite Breakup Model bei der Simulation von Aluminiumsatelliten überein. Die Anwendung ähnlicher Vergleiche mit CFK-Satelliten hebt bekannte Diskrepanzen in bestehenden empirischen Modellen hervor, die mithilfe von Simulationsergebnissen möglicherweise verbessert werden könnten.

Satelliten in allen Details, bis hin zu einzelnen Schrauben und elektrischen Komponenten, können in MD-Cube durch einen einfachen Import aus einem CAD-Programm genau und effizient modelliert werden. Wir haben ERNST, einen 12U-Nanosatelliten, der derzeit am Fraunhofer EMI entwickelt wird, mit 13,5 Millionen Partikeln diskretisiert, um Parameterstudien durchzuführen, die das Auseinanderbrechen dieses bestimmten Satelliten unter einer Vielzahl von Einschlagsbedingungen untersuchen.

Wir untersuchen den Zerfall und die Verteilung der Fragmente, die sich aus dem Einschlag von ERNST mit Weltraummüll verschiedener Formen (Kugel, Stab, Scheibe) und Größen ergeben, sowie die Auswirkungen von Einschlägen auf verschiedene Teile des Satelliten und aus verschiedenen Richtungen. Die resultierenden Fragmentverteilungen werden verglichen und analysiert.

Wir sind der Meinung, dass numerische Simulationen, die auf Fragmentierung spezialisiert sind, wie MD-Cube, ein leistungsfähiges Instrument zur Untersuchung von Satellitenabbrüchen in der Umlaufbahn sind. Im Gegensatz zu bodengestützten Experimenten sind die Bandbreite der Bedingungen und die schiere Anzahl der Parameterstudien, die effizient durchgeführt werden können, von unschätzbarem Wert für die Entwicklung neuer und verbesserter empirischer Modelle, die für das Verständnis der sich ständig verändernden orbitalen Umgebung um unsere Erde genutzt werden können.

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Simulation des Nanosatelliten ERNST, der von einem acht Kilometer pro Sekunde schnellen Weltraummüllteil getroffen wird. Der energiereiche Aufprall führt zu einem katastrophalen Auseinanderbrechen des Satelliten.