Numerische Untersuchungen von Satellitenkollisionen im Orbit
Weltraummüllobjekte sind Rückstände anthropogener Aktivitäten im All. Seit Beginn der Raumfahrt steigt die Zahl dieser Objekte in der Erdumgebung mit der wachsenden Anzahl gestarteter Raumfahrtsysteme kontinuierlich. Fragmentierungsereignisse, verursacht durch explodierende Tanks ausgedienter Oberstufen sowie unbeabsichtigte Kollisionen von Satelliten, kennzeichnen sprunghafte Anstiege in der Gesamtheit der Raumfahrtrückstände. Solche Fragmentierungsereignisse stellen die größte Quelle von Weltraummüllobjekten dar, wobei speziell für die Kollisionen von Satelliten mittelfristig der weitaus größte Beitrag vorhergesagt wird, wenn die räumliche Dichte der Satelliten ein kritisches Niveau erreicht hat. Dieser Trend wird durch die Installation von großen Satellitenkonstellationen noch verstärkt. Die einzige natürliche Senke, neben dedizierten De-Orbit-Manövern von außer Dienst gestellten Satelliten, ist der Strömungswiderstand der Atmosphäre. Dieser ist aber bereits für relevante Bahnhöhen im niedrigen Erdorbit so gering, dass Objekte dort für Jahrzehnte oder länger verbleiben.
Modellierung der Weltraummüllumgebung
Das Besondere an der Weltraummüllumgebung ist die hohe orbitale Geschwindigkeit ihrer Objekte, und die damit einhergehende zerstörerische Wirkung bei einer Kollision. Bei Kollisionsgeschwindigkeiten von mehreren Kilometern pro Sekunde können selbst die Einschläge nur zentimetergroßer Objekte zu katastrophalen Ausfällen von Satelliten führen. Es ist daher wichtig, die Weltraummüllumgebung zu analysieren, um das Risiko für eine Raumfahrtmission abzuschätzen und gegebenenfalls Schutzmaßnahmen zu treffen. Die Weltraummüllumgebung wird auf Grundlage von Ereignisdatenbanken und Katalogen mit erdgestützten Beobachtungsdaten modelliert. Selbst sehr hochauflösende Beobachtungsradare, zum Beispiel das Weltraumbeobachtungsradar TIRA des Fraunhofer FHR, erfassen nur Objekte die größer als 5 bis 10 Zentimeter sind. Alle kleineren Objekte können kaum beobachtet werden, sie werden stattdessen anhand von Modellen abgeschätzt. Für die dominante Quelle der Fragmentierungsobjekte erfolgt dies nach dem derzeitigen Stand der Technik anhand des Standard Satellite Breakup Model der NASA.
Analyse von Satellitenkollisionen
Das NASA-Breakup-Modell ist ein einfaches empirisches Modell, das nur wenige Eingangsgrößen zulässt: die Massen der kollidierenden Objekte sowie die Kollisionsgeschwindigkeit. Die dem Modell zugrunde liegende statistische Datenbasis ist angesichts der Schwierigkeit der Beobachtung realer Fragmentierungsereignisse im Orbit und des immensen Aufwands der Nachstellung im Labor gering. Beobachtungen von jüngeren Fragmentierungsereignissen im Orbit, wie der chinesische Antisatellitentest Fengyun-1C sowie der Zusammenstoß der Satelliten Iridium 33 und Kosmos 2251, zeigen daher auch deutliche Abweichungen zu den Vorhersagen des NASA-Breakup-Modells. Um die Datenbasis zu erhöhen und die systematische Analyse von Fragmentierungsereignissen zu ermöglichen, verfolgt das Fraunhofer EMI die Strategie, numerische Methoden zur virtuellen Nachstellung von komplexen Kollisionsereignissen im Orbit heranzuziehen.
Numerische Simulationen
Zur Simulation von Satellitenkollisionen nutzen wir den am Fraunhofer EMI entwickelten Hydrocode EMI-SOPHIA, der speziell für die Simulation hochdynamischer strukturmechanischer Prozesse optimiert und durch zahlreiche Experimente validiert wurde. Für die europäische Raumfahrtorganisation ESA wurde SOPHIA zur Simulation von Satellitenfragmentierungen zu PHILOS-SOPHIA erweitert, welches auch Laien erlaubt, Kollisionsszenarien zu erstellen, zu berechnen und Analysen durchzuführen. Das haben wir anhand des ESA-Satelliten LOFT, einer Designstudie eines großen Röntgenteleskops, demonstriert. In verschiedenen Annäherungsszenarien kollidierten wir die numerischen Modelle des LOFT-Satelliten mit einem Kleinsatelliten, um die Anzahl, Eigenschaften und Bahnen der erzeugten Fragmente zu analysieren. Anders als im NASA-Breakup-Modell, das die Geometrie der Kollision nicht berücksichtigt, konnten wir deutliche Unterschiede in der auftretenden Schädigung und Fragmentierung in Abhängigkeit von der Richtung des Zusammenstoßes feststellen. Insbesondere streifende Zusammenstöße können entweder sehr viel größere oder sehr viel kleinere Schäden im Vergleich zu einem zentralen Zusammenstoß erzeugen. Ausschlaggebend hierfür ist die Geometrie der Kollision. Die Orientierung, der Auftreffpunkt und die Richtung der Kollisionspartner zueinander beeinflussen das Ausmaß, mit dem die entstehenden Trümmerwolken weitere Teile des Satelliten treffen und dadurch erneut Fragmente erzeugen. Mit PHILOS-SOPHIA können solche Prozesse physikalisch konsistent simuliert und die Eigenschaften der individuellen Fragmente vollständig ermittelt und nachverfolgt werden.
Ausblick
Um die numerischen Verfahren zur Simulation der Fragmentierung von komplexen, großskaligen Satelliten weiter zu verbessern und den Rechenaufwand zu vermindern, entwickeln wir aktuell Ersatzmodelle für Sandwichbauteile mit faserverstärktem Verbundmaterial. Diese kommen auf modernen Satelliten verstärkt zum Einsatz und erzeugen bei Kollisionen, wie Impakttests belegen, viele kleine Fragmente im nicht beobachtbaren Bereich. Anhand vereinfachter Ersatzmodelle, deren Entwicklung durch dedizierte Experimente unter Einsatz moderner Particle-Tracking-Verfahren begleitet wird, sollen die Simulationen effizienter werden und so eine Vielzahl realistischer und systematischer Untersuchungen von komplexen Satellitenkollisionen erlauben. Solche Studien können die Grundlage zur Verbesserung des bestehenden Standard-Breakup-Modells legen und in die Entwicklung eines leistungsstärkeren europäischen Modells münden.